Urban was?

Mit der Kurzgeschichte „Korallen“ habe ich mich in das Gefilde der Urban Fantasy gewagt. (Die Anthologie, in der der Text erschienen ist, ist hier erhältlich.) Das Genre ist weitaus mehr als lediglich die Abwandlung eines schon bekannten Themas. Ich habe mir darüber ein paar Gedanken gemacht, die unvollständig sind und sicherlich der Nachbesserung bedürfen, aber ich teile sie hier mit – denn in Urban Fantasy steckt viel, und es lohnt sich, darauf einen Blick zu werfen. Der nachfolgende Text ist in leicht veränderter Fassung auch auf der Webseite des Ach Je Verlages erschienen.

Wenn man Urban Fantasy verstehen will, dann muss man nicht in fremden Welten beginnen, sondern in unserer eigenen. Die Welt, in der wir leben, besteht aus allerlei Nischen. Wir alle sind einander ähnlich – deshalb können wir uns als Gleiche erkennen und miteinander kommunizieren. Aber zugleich sind wir verschieden, und auch diese Ungleichheit – im Aussehen, in der Sprache, in der Art, wie wir uns verhalten – kennzeichnet unser Zusammenleben. Was wir „Gesellschaft“ nennen, ist die lose Gemeinschaft dieser Unterschiede. 

Aber: dazu, eine Gesellschaft zu sein, gehört auch, dass es Vorstellungen darüber gibt, was als normal gilt. Und gleichzeitig: dass diese Normen nicht statisch sind, sondern immer neu erstritten werden. 

Teil dieses Streits ist die Auseinandersetzung um Sichtbarkeit. Dass es Normen gibt, bedeutet nämlich vor allem, dass manche von uns anders angesehen werden als andere, ernster genommen werden, sprechen dürfen, eine Bühne bekommen. Über andere rümpft man die Nase, schließt sie aus, verlacht sie. Viele nimmt man gar nicht wahr.

Und manchen widerfährt alles davon zugleich.

Also: die Geschichte der Gesellschaft ist die Geschichte ihrer Normen. Damit aber auch die Geschichte derer, die außen vor sind, unsichtbar, belächelt. Aber deren Perspektive nehmen wir – Hand aufs Herz – selten ein.

Literatur hingehen kann jede Perspektive einnehmen. Soweit, so trivial. Indem sie das tut, setzt sie sich über Normen hinweg. Sie muss sie nicht einmal ansprechen dafür. Es reicht, dass sie sich um eine Perspektive bemüht, die abseits unserer Gewohnheiten liegt.

Aber: jede Außenseiterperspektive ist belehrend, wenn sie auf die Umstände direkt Bezug nimmt. Literatur, die verfremdet und zugleich Wiedererkennbares schafft, ist interessant.

Auftritt Urban Fantasy.

Urban Fantasy ist ein Genre der Phantastik. Grob gesagt werden Figuren und Elemente der klassischen Fantasy in einen Kontext der Gegenwart übertragen. Der Troll in der S-Bahn, die Elfe an der Wall Street. Klingt abwegig, nicht? Genau darum geht es. Denn wer wäre ein größerer Außenseiter als die Elfe unter Brokern und Tradern; der Troll, der die Fahrkarten kontrolliert? Darum geht es in diesem Genre: fremd zu sein in einer fremden Welt (R. Heinlein).

Was aber, wenn man auf viele Arten zugleich fremd sein kann?

Damit zurück zum Anfang: Gesellschaft heißt, dass es Normen gibt, und gleichzeitig werden diese Normen ständig hinterfragt und erneuert. Nothing is static – das ist die Quintessenz. Aber wir, die nun einmal in dieser Welt leben, sind mit diesen Normen konfrontiert. Und die betreffen viele Dinge: Hautfarbe, Geschlecht, Alter. Manchmal mehrere Dinge davon zugleich.

Urban Fantasy greift das auf. Deine Fremdheit und die der anderen. Alle sind wir gleich, alle sind wir fremd; das haben wir gemein mit den Feen, Trollen, mit den namenlosen Geschöpfen. Und weil die seltsamen Wesen mit uns Räume teilen – die Stadt – sind wir einander nah. Wie etwa die Kammern, die wir in ein und demselben Weltenbaum bewohnen (oder, wie Stephen King sagt: dem Turm).

Krisenliteratur

Rund acht Monate ist es her, dass wir – Schwartz und ich – mit der Arbeit an unserer Kurzgeschichte „Korallen“ begonnen haben. Sie wurde jüngst in der Anthologie „Urban Fantasy – Going Intersectional“ veröffentlicht, die Ende Januar 2021 im Berliner Ach Je Verlag erschienen ist. (Hier kann man sie übrigens als eBook und Printversion bestellen.)

Wir schrieben diese Geschichte ganz zu Beginn der Corona-Pandemie: noch in völliger Unsicherheit darüber, wie lange dieser neue Ausnahmezustand anhalten und wie er uns bestimmen würde: unseren Alltag, unsere Beziehungen; das, was wir mit unserer Lebenszeit mittel- und langfristig zu tun gedenken. (Heute, Stand Februar 21, können wir das immer noch nicht, aber es scheint, als seien zumindest die Grenzen unserer Unsicherheit etwas klarer abgesteckt.)

Damals aber, als Schwartz und ich uns dazu entschieden, diese Geschichte zu schreiben, hatte die Pandemie unseren Alltag noch nicht dauerhaft verändert; es schien eher, als habe sie ihn eingefroren. Die Krise war allgegenwärtig, aber sie war gleichzeitig noch vollkommen unbekannt. „Corona“, das war abschotten und warten.

In diesem sehr frühen Stadium kam uns die Idee zu „Korallen“. Es ist keine Geschichte über COVID, aber eine, in der wir das verarbeiten, was die Krise eben von Beginn an auszeichnete und, wie wir jetzt wissen, immer noch ausmacht: die Gleichzeitigkeit von Isolation und umfassender Information.

Weil wir isoliert sind, wird die Krise zu einem Kammerspiel. „Korallen“ greift dieses Szenario auf. Erzählt wird die Geschichte eines Mannes, der, wie alle, auf sich allein gestellt und abgeschottet ist. Lediglich über Nachrichten und Social Media kann er sich über das informieren, was in der Welt geschieht. Es ist ein beständiges Suchen nach Nachrichten, das Sammeln von Wissen und Halbwissen, der ausweglose Versuch, die Lage zu überblicken und das Richtige zu tun. So hegt er sich ein in seine Stabilität – die letztlich trügerisch und zerbrechlich ist.

Der Band, in dem die Kurzgeschichte erschienen ist, befasst sich mit dem Thema Intersektionalität, also der Tatsache, dass Menschen verschiedenen Formen von Ausgrenzung und Diskriminierung gleichzeitig ausgesetzt sein können. In „Korallen“ interessiert uns genau diese Dynamik: wie sich über Social Media Gerüchte verbreiten, wie Sündenböcke ein gemeinsamer Nenner der Sinnsuche werden, wie am Ende das, was wir sehen, nicht zu unterscheiden ist von dem, was wir glauben, fürchten zu müssen.

Von Korallen und Büchern

Und dann, mit einem Mal, ist da ein Buch. Oder, genauer: eine Kurzgeschichte in einem Buch. Es war, glaube ich, noch im April, die Pandemie näherte sich ihrem ersten Gipfel, als Schwartz und ich die Idee zu einem Text entwickelten, die den Titel „Korallen“ tragen sollte. Das war einer dieser Glücksfälle, in der ein spontaner Einfall den Plot bereits vorwegnimmt, die Geschichte in sich einigermaßen konzise ist und die Widersprüche und Probleme, die beim Schreiben auftauchen, sich relativ rasch beheben lassen. Es folgten einige Abend- und Nachttermine, notdürftig koordiniert durch die Zeitverschiebung: Schwartz in Berlin, ich in Florida. Abwechselndes Schreiben, Sprachnachrichten, Streit über Formulierungen. Wir witzeln heute darüber, dass die gemeinsame Arbeit beinahe unsere 20 Jahre währende Freundschaft ruiniert hätte. Das stimmt natürlich nicht, aber wahr ist, dass das Koordinieren zweier Schreibstile und Arbeitsweisen, auch das Ertragen der jeweiligen Eitelkeit anstrengend ist. Wir haben tatsächlich über einzelne Worte gestritten, als stehe und falle das Projekt damit (was, zu einem gewissen Grad, auch stimmt). Dennoch war das erste gemeinsame Projekt irgendwann fertiggestellt und eingereicht, und da wir zwar beide eitel, aber auch Pessimisten sind, waren wir überrascht und froh, als die Herausgeberïnnen uns mitteilten, dass man unseren Text in dieser schönen Anthologie drucken würde.

Ich verrate nicht zu viel, wenn ich sage, dass „Korallen“ davon handelt, wie Menschen sich in einer globalen Ausnahmesituation verhalten, die sie nicht verstehen. Für mich ist die Geschichte eine Rückkehr zu meinen thematischen Wurzeln. Ich hätte niemals begonnen, mich für fiktionale Literatur zu interessieren, hätte meine Mutter mir nicht einen Kurzgeschichtenband von Stephen King geschenkt, als ich 14 Jahre alt war. Erstmals konnte ich flüchten: nicht in die Filme und Serien, die ich seinerzeit schaute, sondern in die Literatur. Durch Horror und Fantasy bin ich damals nicht nur ans Lesen, sondern auch zum Schreiben gekommen. Die ersten Geschichten, die ich Leuten vorlegte, die es gut mit mir meinten, waren Imitationen dessen, was ich las. ich orientierte mich an King, später – und womöglich noch immer – an H.P. Lovecraft.

Das Schreiben von „Korallen“ hat, auch bedingt durch die Isolation, eine Konserve alter Gefühle geöffnet. Gute Gefühle aus der Zeit, als ich meine Geschichten noch auf einem 486er schrieb, während die Stereoanlage abwechselnd Heavy Metal und Big Band Jazz spielte. Und genau wie damals, als die Sorgen natürlich nicht dieselben waren wie heute, war es, als ob ich mich in einem Kleiderschrank versteckte: dunkel, eng, aber sicher vor dem, was im Zimmer rumort.

Erhältlich ist Urban Fantasy – Going Intersectional übrigens ab Januar 2021 im Ach Je Verlag. Vorbestellt werden kann er bereits jetzt, und zwar hier.